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Des Werthers neue Leiden

Wer erwartete nun lediglich eine weitere Inszenierung des klassischen Stoffes zu erleben, wurde enttäuscht...nein vielmehr über die eigenen Erwartungen hinausgeführt. Das dargebotene Stück mäandert zwischen drei unterschiedlichen Erzählebenen hin und her. Dargeboten wird natürlich die dramatische Geschichte des jungen Werthers, der hoffnungslos verliebt ist, in die bereits mit Albert verlobte Lotte. Zugleich aber wird dieser Handlungsstrang erweitert um drei den Hauptprotagonisten zugeordnete „Gedankenschauspieler“, durch die innere Vorgänge und emotionale Befindlichkeiten des tragischen Dreigespanns im wahrsten Sinne des Wortes greif- bzw. sichtbar gemacht werden. Umschlossen sind diese beiden Ebenen nochmals durch eine selbstreflexiv angelegte Rahmenhandlung, die in der Gegenwart, genauer in der Lebenswelt einer fiktiven Schultheater-AG angesiedelt ist und eben in diese wird der Zuschauer hineingeworfen, als sich der Vorhang öffnet.

 

Die jungen Mimen, typische Vertreter ihrer Generation mit Handy und Skateboard, diskutieren zu Beginn angeregt, welches Stück der Leiter der Theater-AG Herr E. (Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind durchaus nicht zufällig) wohl dieses Jahr spielen lassen will. Der ominöse, offensichtlich selten pünktlich erscheinende AG-Leiter E. tritt dann auch nicht persönlich auf die Bühne, sondern wird mit Mitteln des Improvisationstheaters von den Jugendlichen Schauspielern auf der Bühne realisiert. Nach und nach offenbart der anspruchsvolle Pädagoge für welches Drama er sich entschieden hat: „Diese Wahl könne man ja wohl kaum Schülern überlassen“. Als bei der Gruppe langsam die Erkenntnis reift, um welches Stück bzw. welchen Autor es gehen soll, ist das Entsetzen groß: „Oh nein, wieder was von...Fuck...Goethe!“ Gewisse Bezüge zur cineastischen Populärkultur sind wohl nicht ganz von der Hand zu weisen.

 

In der Folge wird das Publikum an die Ausgangsgeschichte Werthers herangeführt. Der junge Rechtsgelehrte (Alexander Grassl) begegnet Lotte (Paula Dax) auf einem sommerlichen, von zartem Lampionschein illuminierten Tanzvergnügen. Erste, scheue Blicke werden ausgetauscht und die gegenseitige Zuneigung wird spätestens beim gemeinsamen Kontretanz spürbar. Die unschuldig-naive Annäherung auf der ersten Handlungsebene wird kontrastiert vom wilden, ausschweifenden Gebaren des „Gedanken-Werthers“ (Lisa Müller), den ganz offensichtlich schon stärkere Gefühle zu Lotte drängen, als es die bürgerlichen Sittennormen des ausgehenden 18. Jahrhunderts erlauben würden.

 

Mathias Eicks und seine Truppe nehmen das Publikum in der Folge mit auf eine wechselvolle Reise. Permanente Verschränkungen zwischen den Handlungsebenen fordern dem Zuschauer durchaus Aufmerksamkeit ab, wirken aber nie verwirrend. Wie ein roter Faden ziehen sich bewegende Songs von Billie Eilish (When the party is over) und dem Deutschrapper „Kaspar“ (Alles endet) durch das Stück, teilweise live vorgetragen von Stephanie Brendli und Sophie Digel, und lassen verschiedenen Handlungsstränge auf musikalische Weise verschmelzen.

 

Die „Jetztzeit-Jugendlichen“, zu Beginn von Goethes Text noch ganz und gar abgestoßen - „Wenn man davon zu viel liest, verfolgen einen die Probleme von dem loser noch in den Schlaf!“ -, beginnen nach und nach zu begreifen, dass grundlegende Themen der Lektüre wie tragischer Liebe, verweigerte Anerkennung und fehlende Akzeptanz auch heute noch unverändert aktuell sind. Vor allem Rebekka (Stefanie Brendli), die selbst unter der unerwiderten Liebe Cems (Foti Kemalis), ihren schlechten Zensuren und abwertenden Äußerungen von Klassenkameraden leidet, identifiziert sich zunehmend mit Goethes Titelhelden.

 

Dieser wird nun erstmals mit seinem Konkurrenten Albert (Deniz Akdeniz) konfrontiert und muss feststellen, dass er den „Nebenbuhler“ durchaus sympathisch findet. Oberflächlich entsteht gar eine Freundschaft zwischen den beiden Männern, die ohne die Existenz Lottes unter Umständen auch von Dauer hätte sein können, doch die zunehmende Spannung und die Unvereinbarkeit der von ihnen verkörperten Beziehungskonzeptionen wird zunehmend greifbar. Im Zuge eines außerordentlich theoretischen und absolut textsicher präsentierten Dialogs der beiden männlichen Hauptfiguren wird diskutiert, inwieweit der Freitod nun feige Weltflucht und Sünde oder bewusste, freie Entscheidung sei. Auch wenn die freundschaftliche Fassade gewahrt wird, können die beiden keine Einigung mehr erzielen.

Der „Gedanken-Werther“ ist derweil nicht an diese rational-gesellschaftlichen Fesseln gebunden und lässt seiner stürmisch-und-drängenden Gefühlswelt freien Lauf. Lisa Müller bringt die sich bis an die Grenze des Wahnsinns steigernden Gefühlszustände Werthers in fulminanter Art, ohne Scheu und voller Ausdruckskraft auf die Bühne. Als Betrachter ist man hin-und hergerissen zwischen Betroffenheit und tiefem Mitgefühl für die gequälte Seelenwelt dieser leidenden Figur.

 

Doch nicht nur auf dieser Ebene eskalieren die Konflikte. Rebekka, obwohl stets unterstützt von der unglaubliche Lebensfreude ausstrahlenden Freundin Carla (Sophie Digel), fühlt sich mehr denn je überrollt von den gefühlten und echten Problemen des Teenagerdaseins; die Goethe-Lektüre scheint diese Wahrnehmung nur noch zu steigern: „Ich fühle mich so Werther.“

Ein erstes Liebäugeln mit Selbstmordgedanken auf einer Brücke wird unterbrochen, vom plötzlich auftauchenden „Gedankenwerther“, der Rebekka fest umschlingt. Ob dies nun eher als Einfluss „wertherscher“ Überspannung“ auf das Mädchen oder als helfende Geste der imaginären Figur zu verstehen ist, bleibt offen.

 

„Im Laufe des vergangenen Jahres haben sich die Schülerinnen und Schüler wirklich in die Lektüre vertieft und nach und nach immer mehr eigene Ideen eingebracht.“ berichtet Mathias Eicks. „Zugegeben, es ist kein ganz leichter Text, aber wenn Jugendliche dieses Thema nicht anspricht, dann weiß ich auch nicht mehr!“ ergänzt der Regisseur mit süffisantem Lächeln. Genau dieser Umstand spiegelt sich auch auf der Bühne wieder. Dieses Jahr stehen Text und Spiel im Mittelpunkt der GEG-Inszenierung. Das Bühnenbild ist wunderschön, untermalt das Dargestellte, bleibt aber dennoch schlicht. Auch mit technischen Effekten wurde nicht unnötig gewuchert. Umso deutlicher treten die fehlerfrei vorgetragenen Mono- und Dialoge der Hautpersonen hervor. Die Schüler haben den Kern des Stückes verinnerlicht, das wird besonders deutlich, wenn man Haupt- und Rahmenhandlung, an der die Schülerinnen und Schüler aktiv mitgearbeitet haben, einander gegenüberstellt. Moden, Zeiten, Sprache ändern sich, doch gewisse, das urmenschliche Sein betreffende Fragen bleiben stets bestehen.

 

Nach der Pause gehen die Dinge erst einmal den erwarteten Gang weiter. Werther erkennt einerseits die Unmöglichkeit die angestrebte Liebesbeziehung zu realisieren, will diesen Umstand aber gleichzeitig auf keinen Fall anerkennen: „Ich begreife nicht, wie ein anderer sie liebhaben kann, sie liebhaben darf!?“…das wohlbekannte Ende des Dramas liegt wie der Pulverdampf der später abgefeuerten Pistole in der Luft. Der zeitgenössische Handlungsstrang rast wie auf Schienen gesetzt, parallel zur Goethe-Handlung, auf die Katastrophe zu. Sowohl Rebekka, als auch Werther entfliehen der Gesellschaft, sollen aus Schule bzw. der unglücklichen ménage à trois „entfernt“ werden und erklären in Abschiedsbriefen aus dieser Welt scheiden zu wollen.

 

In den letzten beiden Szenen kulminiert dann das tragische Geschehen. Während Albert und Lotte beisammensitzen, wird im Hintergrund der Abschiedsbrief Werthers an die Bühnenwand projiziert, Rebekkas Botschaft wird aus dem Off eingesprochen und plötzlich, am Ende doch fast wieder banal, ist sie da: die Todesnachricht – Werther hat sich das Leben genommen! Dieses Ende war ja irgendwie zu erwarten, doch was ist mit Rebekka? Ein letztes Mal wird für eine neue Einstellung aufgeblendet und da steht der verzweifelte Teenager, am Rande der schon zuvor erkundeten Brücke, bereit zum finalen Sprung…und dann: DEUS EX MACHINA! Der scheidende Schulleiter Friedemann Schlumberger erscheint, mit großen Engelsschwingen ausstaffiert, auf der Bühne und nimmt das ergriffene Mädchen, im wahrsten Sinne des Wortes, unter seine Fittiche. Seine finalen Worte lassen wenigstens einen Teil der immensen Spannung im Publikum entweichen: „Der Sinn des Lebens ist leben!“

Der Rest ist Rausch (ganz im Sinne Werthers) und der vollbesetzte Lichthof am Graf-Eberhard-Gymnasium spendet minutenlang stehende Ovationen. Dass dieser Abend nicht spurlos an den Zuschauern vorbeiging, manifestiert sich zudem in einigen Tränen, die sich mehrere junge Zuschauer verstohlen aus den Augen wischen.

 

 

Bravo und Dankeschön an alle Beteiligten, die uns wieder einmal einen wunderschönen Theaterabend am GEG bereitet haben. Um die Zukunft der dramatischen Künste an unserer Schule muss uns offensichtlich nicht bange sein. Viele neue Schauspieler haben bewiesen, dass großes darstellerisches Talent besitzen und bereits in den Startlöchern stehen, um die nun abgehenden Abiturienten des Ensembles zu ersetzen.

 

Regie: Mathias Eicks

Schauspieler: Paula Dax, Alexander Grassl, Lisa Müller, Deniz Akdeniz, Nina Braunstein, Conni Strähle, Stefanie Brendli, Sophie Digel, Foti Kemalis, Paula Mockler, Myriam Dinu, Fidelia Dax, Friedemann Schlumberger.

Technik: Steffen Schwerdtfeger, Tim Knappe,

Bühnenbild: Peter Waimer, Familie Mockler, Gunter Strähle